Berliner Herz mit Zeichenstift,

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Berliner Herz mit Zeichenstift,

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Berliner Herz mit Zeichenstift.

"Man kann einen Menschen ebenso mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt" —
Zum 100. Geburtstag von Heinrich Zille.


Zeichnung: Wurstmaxe „Reißt die Neesenlöcher nich so weit uff ! Ihr zieht mir den janzen Duft von de Wurscht weg!“
Zeichnung: „Mutta, wat kochste ?" — „Wäsche!" — „Schmeckt det jut ?“
Zeichnung: Zweites Quergebäude, Hof im Keller. „Armer Vogel, kriegst keene Sonne uff unsen dustern Hof !
Un wenn mir ooch Vata uff’n Abend zerhaut,- ick lass dir raus – flieg in’s Vogelland“!

Hundert Jahre sind am 10. Januar 1958, seit dem Geburtstag von Heinrich Zille vergangen,
und fast dreißig Jahre — er starb 1929 — seit seinem Tode. Das Berlin, das er unzählige Male
durchwanderte, steht in großen Teilen nicht mehr, die Gestalten, die er in Tausenden von
Zeichnungen festhielt, sieht man in dieser typischen Art kaum noch, und so mag es scheinen,
als ob Heinrich Zille nun historisch geworden wäre und uns kaum noch etwas zu sagen hätte.

Aber wir brauchen nur an ein Wort zu denken das, er einmal geprägt hat und das unsichtbar
hinter vielen seiner Zeichnungen stand: "Man kann einen Menschen ebenso mit einer Wohnung
erschlagen wie mit einer Axt". Schon dieses Wort allein zeigt, daß Heinrich Zille heute noch
so aktuell ist wie in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Würde er heute unter uns
leben, dann würde er seine Gestalten nicht in den Elendsvierteln des Berliner Nordens suchen,
sondern vor allem in den zahlreichen Barackenlagern. Die Not und das Elend der Heimatver-
triebenen und der Flüchtlinge würden Motiv und Objekt seiner Darstellung sein, und er würde
in diesen Jahren des "Wirtschaftswunders" genauso an die schlafenden Gewissen rütteln wie
in jener Zeit des Stucks, des Plüschs und der Pleureusen.

Und wieder würde er vor allem den Kindern und den Alten seine Liebe schenken. Der Dichter
Georg Hermann, der in seinen Romanen das alte Berlin erstehen ließ, sagte von Zille einmal:
"Ja, versteht man denn nicht, wie durch seine Blätter stets nur der eine Schrei geht: Aber
die Kinder! Aber die Kinder !" Er zeichnete die Kinder, wie sie auf den Straßen und auf den
Hinterhöfen herumliefen, ungewaschen und ungekämmt, blaß und elend, altklug und nase-
weis und keck. Heute würden ihm die in den Lagern zusammengepferchten Kinder Modell
stehen. Gerade um die Kinder und um die jungen Menschen, die ohne ihr Verschulden in eine
lichtlose Zukunft hineinvegetieren, ging es ihm in seiner Kunst. Wenn wir heute viel hell-
höriger geworden sind gegenüber der Not der Kinder und wenn unser Gewissen geschärft
worden ist, dann hat Heinrich Zille einen großen Anteil daran.

Auch die Not der Alten ging ihm zu Herzen. Er hätte sie selbst zu spüren bekommen, wenn er
nicht — nach jahrzehntelanger Tätigkeit als Lithograph eben wegen seines Alters entlassen —
als freischaffender Künstler hätte arbeiten können. "Alte Leute", so meinte er einmal,
"dürften jar nich jeboren werden". Seine Alten sind manchmal ergreifend. Niemals findet man
bei ihm ein Antlitz, auf dem der Widerschein des abgeklärten Alters freundlich ruht, immer
spricht die Hoffnungslosigkeit, die Not aus diesen Gesichtern. Wenn heute unsere Alten vor
der ärgsten Not geschützt sind, dann denkt wohl kaum einer von ihnen daran, daß er das zu
einem Teil auch Heinrich Zille zu verdanken hat. Sein Herz schlug für die Armen, für alle, die
auf der Schattenseite des Daseins leben, und dieser Herzschlag ging über in seinen Zeichenstift.

Heinrich Zille hat in seiner Jugend selbst Not und bitterste Armut erfahren. Er ist von Geburt
gar kein Berliner, am 10. Januar 1858 kam er in dem sächsischen Städtchen Radeburg zur Welt.
Er war gerade neun Jahre alt, als die Zilles, um den vielen Gläubigern zu entrinnen, nach Berlin
zogen. Die Einrichtung ihrer ersten Wohnung dort war in jenen "glücklichen Friedenszeiten" so,
wie viele von uns Heimatvertriebene das jetzt kennengelernt haben; sie bestand aus einem
bandeisenbeschlagenen Koffer, der als Tisch diente, einem Schemel, einem eisernen Ofen und
ein paar Tassen ohne Henkel. Heinrich, der auf einer Strohunterlage auf dem Fußboden schlief,
half seiner Mutter bei der Heimarbeit von Uhrketten aus Pappe, er sammelte in den Lumpen-
kellern Alt-Berlins Wollstaub, handelte mit Kommißbrot und spielte den Laufjungen eines
Tingel-Tangels, und er verdiente so ein paar Groschen, um zum Lebensunterhalt der Familie
beizutragen. Heinrich Zille wurde Lithograph. Nach dem schweren Zehnstundentag in der litho-
graphischen Werkstatt lernte er bei Lehrern, die ihm weiterhelfen konnten. Ein guter Stern
führte ihn in den Abendunterricht der Kunstschule des Professors Hosemann. "Gehen Sie auf
die Straße hinaus, ins Freie, beobachten Sie selber", sagte dieser zu ihm. Und Zille entdeckte
sein „Milljöh", die Menschen in den Elendsvierteln. Aber erst spät konnte er wirklich unab-
hängig und frei seiner künstlerischen Berufung nachgehen. Über dreißig Jahre war er Ätzer
für Kunstdrucke gewesen, und er hatte bereits die Mitte der Vierzig überschritten, als er aus
seiner Stellung bei der Fotographischen Gesellschaft in Berlin einfach entlassen wurde. Jetzt
war er gezwungen, sich durchzusetzen. Er wurde freischaffender Künstler, er fand bald Aner-
kennung, und schließlich wurde er berühmt. Ja, er wurde sogar Mitglied der Akademie der
Künste und Professor.

Immer aber hat sich Zille den Armen und Ärmsten zugehörig gefühlt. Ihr Leben ist es, daß er
in vielen tausend Zeichnungen auf eine nur ihm eigentümliche Weise festgehalten hat, sein
warmes, fühlendes Herz trieb ihn dazu. Wie oft verbirgt sich die tiefe Tragik hinter einer
kessen, typisch berlinischen Redewendung. Der gebürtige Sachse ist nun ganz und gar ein
Berliner geworden, wie der Norden und Osten von Pankow bis Rummelsburg keinen echteren
hätten hervorbringen können.

Heinrich Zille war nicht nur in seiner Kunst ein großer Idealist, er war es auch im praktischen
Leben. Er hat, so gut er es nur vermochte, seinen hungernden und darbenden Freunden ge-
holfen. "Wenn ich helfen kann, tu ichs am liebsten in den hungernden Mund, gleich ! Seine
einzige Sorge war, daß er keinen vergäße. Er selbst hat, auch als berühmter Künstler, sehr
bescheiden gelebt. Und er besaß Freunde in allen Bevölkerungsschichten, unter den Kindern
der Elendsviertel genauso wie unter den großen Künstlern. Lovis Corinth und Max Slevogt
zählten zu seinen Freunden. Es mag hier auch erwähnt werden, daß er den ostpreußischen
Tiermaler Richard Friese kannte, der damals als "Buntdrucker" in einer drucktechnischen
Anstalt arbeitete. Zu seinem siebzigsten Geburtstag stieg auch Käthe Kollwitz, die große
ostpreußische Graphikerin, die vier Treppen herauf in die Wohnung von Heinrich Zille, die
Frau, die sich in ihrem künstlerischen Werk auch der Elenden unter den Geschöpfen Gottes
angenommen hatte. Sie schätzte Heinrich Zille, und sie hielt viel von seinem Werk:
„. . . Es gibt noch, einen dritten Zille, und dieser ist mir der liebste. Er ist weder humor-
istisch für Witzblätter noch Satiriker, er ist restlos Künstler. Ein paar Linien, ein paar Striche,
ein wenig Farbe mitunter, — und es sind Meisterwerke“.

Heinrich Zille war ein gütiger, warmherziger Mensch und ein bedeutender Künstler, und er
war einer der größten Berliner. Mit Recht konnte Claire Waldorff ihrem Freund Heinrich Zille
zu seinem siebzigsten Geburtstag ein Lied singen, in dem es hieß: "Heinrich heeßt er ! —
Ganz Berlin — schätzt und liebt und achtet ihn. — Keiner hat in diesen Landen — so wie er
ein Volk verstanden. — Mach so weiter, lieber Meester — Heinrich heeßt er !"

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 18. Januar 1958

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Käthe Kollwitzzum 85. Geburtstag.

Am 8. Juli 1952 jährt sich zum 85. Male der Tag, an dem Käthe Kollwitz, die große Malerin,
Graphikerin und gelegentliche Bildhauerin in Königsberg (Pr.) geboren wurde. Ihr fruchtbares
Leben erlosch in jenen düsteren Apriltagen des Jahres 1945, als Berlin, ihr Wohn- und Arbeits-
platz für Jahrzehnte ihres Lebens, in Schutt und Trümmer aufging. Käthe Kollwitz ist Ost-
preußin. Nicht nur der Geburt nach, die sie in einem ostpreußischen Predigerhause in Königs-
berg (Pr.) erstmals das Licht dieser Welt erblicken ließ. Ihre äußere Gestalt, das großzügig
weitflächige Gesicht, das sie so oft mit dem Zeichenstift nachgeformt hat, die kraftvolle
Vitalität ihrer künstlerischen Persönlichkeit zeugen davon. Liegen in ihrem Sein doch jene
Pole ostpreußischer Wesenheit eng beieinander, die einmal im Pathos des sich verschwenden
und Verschenkens, zum andern in bewußter Beschränkung, selbstgewählter Askese, sich
zusammenziehen zum Individuellen ihr Genügen finden. Ein starker, gütiger, aufrechter
Mensch tritt uns in dieser Künstlerin entgegen, der mutig und hart zugleich die Probleme
seinerzeit, die soziale Not jener Tage, zu gestalten wußte. Die Kunst der Käthe Kollwitz
steht zwischen zwei Menschenaltern. Sie kommt aus der romantischen Idealisierung des
Proletariats vor der Jahrhundertwende und reicht schon in die nüchterne Idealisierung des
Proletariats, in die neue Sowjetmalerei herein. Doch sie ist mehr, größer als die beiden ge-
nannten künstlerischen Aussagen. Was ihre Kunst größer macht als die zwei Epochen vor und
nach ihr, ist das merkwürdige gegeneinander wirken von Pathos und Askese, dieser beiden
scheinbar unvereinbaren Gegensätze, die ihr letztlich aus ihrer ostpreußischen Wesenheit
erwachsen. Damit kommt sie fast immer an der romantischen Sentimentalität vorbei, einer
Gefahr, die ihre Kunst in ihren Frühwerken nicht immer zu vermeiden verstanden hat.

Der Lebensweg der Künstlerin barg Höhen und Tiefen, Leid und Glück. Nach einer tief reli-
giösen, aber freisinnigen Erziehung im Königsberger Vaterhause kam sie mit 18 Jahren nach
Berlin, wo sie in der Malerinnenschule Stauffer-Bern zeichnen lernte. Nach einjährigem Auf-
enthalt kehrte sie nach Königsberg zurück, um ihre Zeichenstunden bei E. Neide fortzusetzen.
Danach ging sie nach München, wo sie in der Künstlerinnenschule Herterichs gute Fortschritte
machte. Nach Rückkehr in das Elternhaus bildete sie sich selbst weiter, malte und zeichnete
Porträts und Studien aus dem Armeleute-Milieu des Hafenviertels und eignete sich auch die
Grundlagen der Radiertechnik an. Im Jahre 1891 heiratete sie den Arzt Karl Kollwitz und
siedelte mit ihm nach Berlin über, in ein Armenviertel des Nordens, in dem sich ihr Mann als
Armenarzt betätigte. Hier fand auch die Künstlerin ihre Modelle, schilderte mit dem Zeichen-
stift das Elend des großstädtischen Proletariats ihrer Umgebung. Die erste Anregung zur Dar-
stellung der sozialen Not ihrer Zeit kam ihr nicht zuletzt aus der Literatur jener Tage. Die
Uraufführung von Gerhard Hauptmanns 'Die Weber' gab ihr die erste Anregung zu einem
großen Zyklus, den sie 'Ein Weberaufstand' nannte (1894/98). Die Darstellung eines Selbst-
bildnis weiteren Zyklus unter dem Thema 'Der Bauernkrieg' (1905/08) bedeutete in der
meisterhaften Darstellung geballter Massenszenen einen Höhepunkt ihres Schaffens und
brachte ihr als äußere Anerkennung den Villa Romana-Preis ein. Doch blieb Italien und dessen
Kunst ohne jeden Einfluß auf ihr Schaffen. Das Elend des modernen Industrieproletariats war
nach wie vor das Darstellungsthema ihrer Kunst, der sie auch mit dem Modellierholz nahe zu
kommen suchte. Kriegsleid blieb ihr nicht erspart. Einer ihrer Söhne fiel im Jahre 1914, Krank-
heit warf sie selbst darnieder, so daß in den Jahren 1914/18 wenig von ihr geschaffen werden
konnte. 1918 wurde sie als Mitglied in die Berliner Akademie aufgenommen und ihr der
Professorentitel vergeben. Der Holzschnitt wird ihr in der Folgezeit zum neuen Ausdrucks-
mittel. In ihren Spätwerken wird ein bemerkbarer Stilwandel spürbar. Es liegt ihr nicht mehr
an der Schilderung von Einzelschicksalen. Die Darstellung des allgemeinen Geschehens wird
ihr wichtig. Die detaillierte naturalistische Betrachtungsweise wird durch geistig vereinfach-
ende Monumentalisierung der Form abgelöst. Die unmittelbare Anschauung und das private
Leben, das ihre ersten Zyklen auszeichnete, sind preisgegeben. Ein Verlust, der aufgewogen
wird durch stärkste Ausdruckswirkung der Form und eine souveräne Beherrschung der mit
höchster Sparsamkeit verwendeten künstlerischen Mittel. Unter den Lithographien dieser
Schaffensperiode kommen neben Blättern von streng stilisierter Art auch solche vor, die trotz
aller Vereinfachung der Form wieder mehr von lebensvolleren Darstellungen ausgehen. In den
'Einundzwanzig Zeichnungen der späten Jahre', die der Verlag Gebr. Mann in Berlin mit ausge-
zeichneten Reproduktionen herausgegeben hat, wird diese Stilausweitung deutlich, die von
der Reife eines reichen künstlerischen Lebens zeugt.

Käthe Kollwitz ist fast 78 Jahre alt geworden. Sie durfte sich demnach vollenden, ihre künst-
lerische Kraft ausschöpfen. In ihren Tagebuchaufzeichnungen, die von ihrem Sohn im Gebr.-
Mann-Verlag, Berlin, herausgebracht worden sind, schreibt sie als kaum Neunundvierzigjährige:
"… Ein so stilles Gefühl war in mir, daß ich mir dachte: Wenn das Alter diesen Frieden mit sich
bringt, dann verstehe ich, daß alte Leute aus diesem Leben nicht freiwillig scheiden. Der
Jüngere, Tätige, sieht nur in ihnen die verfallende Kraft, aber der Alte selbst erlebt in sich
Neues, den ihn immer mehr erfüllenden Gottesfrieden. Wenn das so ist, so ist ein Stillstand
nur nach außen da, er selbst hat das berechtigte Gefühl der Weiterentwicklung, das ihn davon
abhält, sein Leben zu beendigen. Es kommt immer darauf heraus, daß nur das für einen Wahr-
heit ist, was empfunden wird. Die Altersgefühle, die noch nicht erlebt sind, sind uns noch
fremdes Gebiet. Es ist in dem Kellerschen Sinn eine 'Frechheit dem Leben gegenüber' in dem
Alter keinen Wert zu sehen."

Wir wollen hoffen, daß der verdienten Künstlerin und urwüchsigen Ostpreußin ein Lebensabend
dieser Art, trotz Bombennächten und Kriegsverknappungen, geworden ist. Dr. G. R.

Quelle: OSTPREUSSEN-WARTE, Juli 1952

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