Saargebiet, elftes Land der Bundesrepublik.

Zeitgeschichtlich flankierende Ereignisdaten der Gewerkschaftgeschichte.
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Saargebiet, elftes Land der Bundesrepublik.

Beitragvon -sd- » 29.09.2017, 20:36

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Saargebiet, elftes Land in der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik.

Politische Gedanken zur Jahreswende.

Von Dr. Alfred Gille, Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen.

Mit dem zwölften Glockenschlag in der Silvesternacht reiht sich die
Bevölkerung des Saargebietes als elftes Land in die politische Gemeinschaft
der Bundesrepublik ein. Damit ist der erste Schritt zu Gesamtdeutschland
getan. Dank und Freude erfüllen unsere Herzen.

Zum ersten Male nach dem chaotischen Zusammenbruch des Jahres 1945 wurde
zur Regelung einer territorialen Streitfrage die Meinung der betroffenen
Bevölkerung befragt und der völkerrechtliche Grundsatz des Selbstbestim-
mungsrechtes angewandt. Das vereinbarte Verfahren hatte wesentliche Mängel.
Es bot für die Abstimmenden keine echte Alternative. Die Frage hieß nicht:
für das Saarstatut oder für Deutschland, sondern lautete:
für das Saarstatut oder für die Beibehaltung eines rechtlosen Zustandes.
Das rügten die Politiker und auch die Völkerrechtler, und niemand konnte
ihnen mit rechtlichen Argumenten widersprechen. Doch was kümmerten die
deutsche Bevölkerung an der Saar die Halbheiten des vereinbarten Verfah-
rens ? Sie verneinte mit überwiegender Mehrheit die ihr vorgelegte Frage.
Nach dem juristischen Formelkram hätte, auf diese Antwort der Bevölkerung
nun alles beim Alten bleiben sollen. Der Versuch einer „Zwischenlösung"
war als gescheitert zu betrachten.

Doch es geschah etwas ganz anderes. Noch in der Nacht nach der Abstimmung
erklärte der französische Ministerpräsident im Namen seiner Regierung und —
wie es sich sehr bald herausstellte — auch mit voller Zustimmung des
französischen Volkes, daß er das Abstimmungsergebnis an der Saar als ein
unmißverständliches Ja für Deutschland ansehe und entschlossen sei, aus
diesem Willen der Bevölkerung die politischen Folgen zu ziehen.

Es war eine Sternstunde für Europa. Das französische Volk und sein Staats-
mann hatten sich ohne Zaudern bereitgefunden, den Willen der deutschen
Bevölkerung an der Saar so entgegenzunehmen und anzuerkennen, wie er
gemeint war. Alle „Konzeptionen", alle taktischen Überlegungen und alle
eigensüchtigen Wünsche und Hoffnungen wurden zur Seite geschoben. Die
abendländische Gesinnung, zu deren sittlichen Fundamenten stets eine
gerechte Ordnung zwischen Menschen und Völkern gehörte, feierte einen
seltenen Triumph. Seine Leuchtkraft durchstrahlt die vielfachen Dunkel-
heiten und Gefahren der Gegenwart. Niemand zweifelt heute daran, daß
dieses bedeutungsvolle Ereignis beiden beteiligten Nationen zum Segen
gereichen wird.

Auch der Deutsche Bundestag erkannte die Größe der Stunde. Bei der Schluß-
abstimmung über das umfangreiche Vertragswerk erhoben sich sämtliche Abge-
ordnete des Bundestages und gaben damit ihre Zustimmung. Sie taten es in
vollem Bewußtsein der schweren finanziellen Leistungen, zu denen sich die
Bundesrepublik verpflichtete.

Vielleicht wäre dieses große Ereignis in seiner zukunftsträchtigen Bedeutung
noch mehr gewürdigt worden, wenn nicht zwischen Abstimmungstag und Annahme
des Vertragswerks schwere dunkle Schatten am weltpolitischen Horizont herauf-
gezogen wären. Kriegerische Auseinandersetzungen am Suezkanal mit Bomben-
geschwadern und Fallschirmtruppen. In Ungarn der Aufschrei eines ganzen
Volkes gegen die Unterdrückung durch ein unmenschliches Terrorsystem und
sowjetische Waffen. Bisweilen sah es so aus, als ob wir am Rande eines
dritten Weltkrieges stünden. Echte Sorge erfüllte die Staatsmänner vieler
Nationen, und die Völker starrten gebannt auf die beiden Brandherde. Wen
interessierte schon in diesen Tagen und Wochen die Lösung des Saarkonflikts,
der jahrelang wie ein Verhängnis zwischen Deutschland und Frankreich gestan-
den hatte ! Dort hatten ja nicht die Waffen gedroht oder gar gesprochen.
Dort wurden nicht Kinder, Frauen und Greise von sowjetischen Panzern nieder-
gewalzt. Die schlichte Befragung einer betroffenen Bevölkerung war kein
dramatisches Schauspiel, das die Blicke auf sich zog. Und doch wurde hier
ein Konflikt mit den so viel gepriesenen "friedlichen Mitteln" beendet,
also durch Mittel, nach denen die echte Friedenssehnsucht der Menschen
immer wieder gebieterisch ruft. Deshalb wird die Zeit kommen, in der das
große Beispiel, das an der Saar gesetzt wurde, Einsicht fordern, Zuversicht
stärken und neue Wege für die Lösung der schweren Konflikte weisen wird,
die noch vor uns liegen. Wir deutschen Heimatvertriebenen haben Anlaß
genug, alles zu tun, dass diese Zeit der großen Einsicht, nicht lange
fern bleibt.

Die Ereignisse am Suez und das Schicksal des tapferen ungarischen Volkes
wurden in allen Phasen ihres Ablaufes mit brennendem Interesse verfolgt.
Man suchte alle Einzelheiten der Ereignisse zu enträtseln und die Kräfte
und Gegenkräfte, die aufeinanderstießen, abzuschätzen. Vorschläge, Pläne
und Gegenpläne überstürzten sich. Jeder politisch Verantwortliche hatte
das Bedürfnis, seinen Standort zu überprüfen. So vieles war schwankend und
unsicher geworden. Manche Illusionen waren zerstört. Nur Narren glaubten
noch an die These von der "friedfertigen Koexistenz", die Sowjetrußland
jahrelang allzu gläubigen Ohren der westlichen Welt gepredigt hatte.
Andererseits waren unwichtig erscheinende Einrichtungen zu kaum geahnter
Bedeutung gewachsen und schenkten den geängstigten Herzen neue Zuversicht
und Hoffnung. Wir denken an die Vereinten Nationen, deren Tagungen in dem
großen Glaspalast am Hudson-River von den Völkern häufig kaum beachtet
wurden. Und doch hatte die Versammlung der Delegierten von fast hundert
Staaten der Welt die Probe bestanden, als die Stunde hoher Kriegsgefahr
schlug. Es gelang, den Brandherd am Suez zu löschen. Dabei vergessen wir
nicht, daß diese so machtvolle Einrichtung bis zur Stunde nicht in der
Lage war, der Knechtung des ungarischen Volkes Einhalt zu bieten und auch
hier die brutale Gewalt in ihre Schranken zu weisen.

Gewiß, auch wir als Heimatvertriebene empfinden die Notwendigkeit, unseren
Standort zu überprüfen und unsere Hoffnungen und Auffassungen dem Neuen,
das heraufgezogen ist, gegenüberzustellen. Das bedeutet aber nicht, daß
wir bereit sind, den unverantwortlichen Plänemachern einen Freibrief zu
gewähren, die meist ungerufen sich überlaut zum Wort melden. Sie kriti-
sieren die angeblich erstarrte, verkrampfte und unwirkliche Haltung der
Heimatvertriebenen und beschimpfen und schmähen ihre Wortführer. Sie
locken mit Sirenentönen und erdreisten sich zu frechen Drohungen.

Wir haben gezeigt, daß wir den Herausforderungen nicht ausweichen. Wir
sind ihnen die Antwort nicht schuldig geblieben. Manche von ihnen zogen
sich schnell wieder in die Mäuselöcher zurück und sind stumm geworden.
Es vergeht aber kaum eine Woche, in der sich nicht neue Rufer im Streit
gegen unsere heimatpolitischen Ansprüche vernehmen lassen. An die Stelle
der Namen von Rang und Klang sind Unbekannte und Ungenannte getreten.
Auch die Methoden wechseln. Dafür heute nur zwei Beispiele, die uns die
Gefahren deutlich machen, denen wir im neuen Jahre gegenüberstehen.

In der Evangelischen Akademie in Arnoldshain hatten sich vor wenigen Tagen
deutsche Heimatvertriebene versammelt, um sich über die heimatpolitischen
Ansprüche der Vertriebenen auszusprechen. Wahrlich ein gutes Beginnen.
Alle Köpfe und noch mehr alle Herzen sind aufgerufen, sich der schweren
Verantwortung zu stellen und den rechten Weg finden zu helfen. Die Schluß-
entschließung, soweit sie der Zeitungsbericht mitteilt, enthielt nichts,
was nicht schon seit Jahren zum selbstverständlichen Gedankengut gehört.
So zum Beispiel der Kernsatz, "die Ostvölker müssen dafür gewonnen werden,
mit uns zusammen die Gemeinschaft Europas zu bauen" und ein weiteres:
"Es bedarf bei allen der Überwindung des nationalstaatlichen Rechtsstand-
punktes zugunsten einer europäischen Gemeinsamkeit, die unsere östlichen
Nachbarn einschließt". Soweit ist alles in Ordnung und bewegt sich auf der
gleichen Grundlage, auf der wir seit Jahren unsere Überlegungen führen.
Nun aber kommt das Entscheidende. Der Berichterstatter überschreibt seinen
Bericht mit der Schlagzeile: "Bahnt sich bei den Vertriebenen ein Meinungs-
umschwung an ?" Die Frage, in diesem Zusammenhang und in dieser Form ge-
stellt, könnte eine erschreckende Unwissenheit des Verfassers über unsere
Vorstellungen beweisen — wenn man nicht vielmehr der Auffassung sein müßte,
daß hier Stimmung gemacht werden soll. Wir merken die Absicht und sind
verstimmt. Natürlich lesen wir dieses in der Zeitung 'Die Welt', die sich
in Vertriebenenfragen schon häufig mangelhaft unterrichtet, schlecht beob-
achtend und bösartig unterstellend gezeigt hat. Es wird Zeit, sich gegen
diese Roßtäuschermethoden zu wappnen.

Und nun ein zweites Beispiel aus den letzten Tagen. Wir meinen einen Artikel
in der Dezemberausgabe der 'Europa-Union' unter der Überschrift "Der Beitrag
des Westens". Der Verfasser fordert "eine besonnene Ostpolitik der Bundes-
republik". Der eigentliche Inhalt erfordert kaum eine geistige Auseinander-
setzung. Wer könnte sich genötigt fühlen, dem Verfasser zu widersprechen,
wenn er meint, die Polen, Ungarn usw. seien "keineswegs die schlechtesten
Europäer". Man müsse "endlich der noch weit verbreiteten Meinung ein Ende
bereiten", in jedem Polen, Ungarn usw. einen Bolschewisten zu sehen. An
diese Banalitäten schließt sich eine Gedankenblüte an: Man könnte Osteuropa
nicht entindustrialisieren oder seine Arbeitermassen ins Zwergbauerntum bzw.
Landarbeiterproletariat zurückführen, was die Vorbedingung einer deutschen
Heimkehr in die Ostgebiete wäre, so wie sie sich manche naiven Gemüter aus-
malen". Ich denke, diese Proben genügen. Der eigentliche Inhalt des Artikels
ist eine maßlose Beschimpfung der Vertriebenenverbände und ihrer Führungen.
Sie verschlössen die Augen vor den Aufgaben, und zwar "aus Gedankenlosigkeit
aus Angst um Mitgliederbestände, aus Herzensträgheit oder Unfähigkeit". Es
sei "sinnlos, die Klischees einer Vergangenheit anzubeten, die so grauenvoll
unterging".

Wir hätten diese Proben nicht gebracht, wenn der Artikel nicht in solch
einer bedeutenden Zeitschrift wie der 'Europa-Union' veröffentlicht worden
wäre. Der Präsident der 'Europa-Union', Ernst Friedländer, hat häufig genug
erkennen lassen, daß er die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Verbände
als Mitstreiter für Europa wertet. Wir dürfen deshalb wohl von ihm erwarten,
daß er von diesem merkwürdigen "Diskussionsbeitrag" abrückt. —

Das neue Jahr wird viel Wachsamkeit von uns fordern. Alles, was bisher
geschah, war nur die Vorbereitung zu den Auseinandersetzungen, denen wir
jetzt entgegengehen. Wir nehmen diese Aufgabe willig und entschlossen auf
uns. Wir tun sie für uns, für Deutschland, für Europa und für den Bau einer
neuen friedlichen Ordnung, die allen beteiligten Völkern zum Segen gereichen
soll. Die letzten Ereignisse in Polen und Ungarn haben unseren Glauben
gestärkt, daß auch die europäischen Völker hinter dem "Eisernen Vorhang"
heute wie seit Jahrhunderten zur abendländischen Gemeinschaft gehören. Sie
lehnen die Knechtschaft nicht minder leidenschaftlich ab als wir. Ihr
Freiheitswille und ihre Opferbereitschaft für die Freiheit kann uns Vorbild
sein. Wir sind davon überzeugt, daß es mit diesen Völkern einen gemeinsamen
Weg zu einer neuen europäischen Ordnung gibt. Dieser Weg wird gefunden
werden, wenn diese Völker sich in Freiheit ihre eigene staatliche Ordnung
haben geben können. Noch lastet die Faust des Unterdrückers auf ihnen.

Was soll in dieser Lage die Rufe nach "neuen Konzeptionen"? Die Saarfrage
kann uns vieles lehren, bestimmt das eine: Alle künstlichen Pläne und alle
ausgeklügelten Überlegungen waren nichts wert, als die Stimme der betrof-
fenen Bevölkerung sich Gehör verschaffen konnte und das französische Volk
wie seine Staatsmänner bereit waren, ihrer abendländischen Verpflichtung
nachzukommen. Auf die Stärkung der Bereitschaft zu diesen abendländischen
Verpflichtungen kommt es allein und ausschließlich an. Viele Wege führen
zu diesem Ziel. Wir sollten alle gehen, ehrlich und furchtlos, wenn sie
uns auch nur einen Schritt zu dieser Bereitschaft näher bringen.

Weil wir das erkennen, deshalb lassen wir uns auch nicht auf Irrwege locken.
Auf Raub und Vertreibung läßt sich kein neues Europa gründen. Wer Unrecht
verewigen will, versündigt sich genauso gegen den Geist des Abendlandes und
seine Gesittung, wie derjenige, der auf die Freiheit verzichtet und die
Knechtschaft in der europäischen Gemeinschaft für möglich hält.

Wir dienen einer guten und gerechten Sache. Wir werden uns von allem Lärm
und Geschrei, von allen Vorwürfen und Verzichtsforderungen nicht verwirren
lassen.

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 5. Januar 1957

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